Wer hat die Arbeitslosigkeit erfunden?

Irgendjemand beim Radio fand es wohl lustig: »Wer hat eigentlich die Arbeitslosigkeit erfunden?«, so sollte die Frage an ahnungslose Passanten in der Fußgängerzone lauten. Der Gedanke dahinter war wohl, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt – und dementsprechend nur dumme Antworten möglich sind.
  Falsch gedacht. Denn wenn man kurz darüber nachdenkt, wird einem schnell klar, dass Arbeitslosigkeit ja kein Naturphänomen ist. Sie ist von Menschen gemacht, also sollte es auch möglich sein, die Verursacher zu benennen. Und wenn man das denn tun will, stößt man sehr rasch auch auf die Antwort: Es sind die »Reichen«, die Besitzenden, die »Kapitalisten« - heutzutage also am ehesten die »Arbeitgeber« bzw. die »Unternehmer«, welche die Arbeitslosigkeit »erfunden« haben.

Und das ist jetzt keinesfalls die naive, sozialistisch geprägte Propaganda, nach der es auf den ersten Blick klingen mag. Es soll auch keine Stimmungsmache sein – es ist schlicht eine nüchterne, nachprüfbare und belegbare Feststellung, die man treffen kann, ohne zunächst eine Wertung damit zu verknüpfen. Denn: in egalitären Stammesgesellschaften gibt es keine Arbeitslosigkeit.
  Arbeitslosigkeit entsteht erst dann, wenn die Produktionsmittel einer Gesellschaft nicht mehr relativ gleich verteilt sind, sondern einzelne eine erhöhte Kontrolle über größere Teile dieser Produktionsmittel ausüben und sie nach Gutdünken verteilen können. Arbeitslos wird derjenige, dem die Inhaber der Produktionsmittel keinen Zugang zu denselben gewähren – und damit sind diese Inhaber von Produktionsmitteln auch die »Erfinder« der Arbeitslosigkeit. Das ist zunächst einmal nicht gut oder schlecht, oder gar verwerflich. Es ist einfache Kausalität.

Nun könnte man auch sagen: Arbeitslosigkeit entsteht nicht dadurch, dass die Produktionsmittel nicht gleichmäßig verteilt sind. Sie entsteht immer dann, wenn eine Gesellschaft überhaupt über nennenswerte Produktionsmittel verfügt, die nicht von den einzelnen Mitgliedern dieser Gesellschaft ständig mit sich herumgetragen werden können. Diese beiden Feststellungen sind ziemlich synonym, und das ist kein Zufall: Niemand will wirklich noch in einer egalitären Stammesgesellschaft leben, weil gerade die Aufteilung der Produktionsmittel erst einen so effizienten Ertrag verschafft, dass die Produktionsmittel und auch die »Besitztümer«, die einer Gesellschaft insgesamt zur Verfügung stehen, erheblich anwachsen. Anwachsen auf ein Niveau, an das wir uns heute gewöhnt haben und das wir nicht mehr missen wollen.
  Man könnte also sagen, dass Arbeitslosigkeit geradezu das Merkmal einer wohlhabenden Gesellschaft ist. Alle Gesellschaften, die keine »ungerechte« Teilung der Produktionsmittel und damit auch keine Arbeitslosigkeit kennen, sind dabei insgesamt materiell (nach unseren Maßstäben) äußerst arm. Auch das ist kein Zufall (wie ich überhaupt glaube, dass es kaum »zufällige« Entwicklungen in einer Gesellschaft gibt, sondern sich letztlich alles auf ökonomische Gründe zurückführen lässt).
  Arbeitslosigkeit ist zugleich ein soziales und politisches Steuerungselement. Die bloße Existenz von Arbeitslosigkeit steigert die Produktivität der Mitglieder einer Gesellschaft – denn in den beschriebenen egalitären Gesellschaften wird kaum jemand mehr »produzieren« als er selbst benötigt, und ein Überschuss für Fortschritt oder gesamtgesellschaftliche Aufgaben wird nur in geringem Umfang erwirtschaftet. Die Existenz der Arbeitslosigkeit und die ungleiche Verteilung der Produktionsmittel lässt allerdings einen Wettbewerb der »Arbeitnehmer« um diese Produktionsmittel entstehen. Das kommt zunächst einmal zwar den Inhabern der Produktionsmittel zugute, darüber hinaus letztendlich aber auch der Gesellschaft an sich.
  Arbeitslosigkeit ist zudem eines der effizientesten und subtilsten Mittel der sozialen Kontrolle: Es wird oft weder von den Betroffenen noch von den Ausübenden als Macht- und Herrschaftsinstrument wahrgenommen. Die arbeitenden und arbeitslosen Werktätigen empfinden den Druck durch die Arbeitslosigkeit eher als persönliches Problem denn als »Maßnahme von oben«. Und die Verantwortlichen für die Arbeitslosigkeit finden immer leicht sekundäre »Sachgründe«, mit der sie eine politisch gewollte Existenz der Arbeitslosigkeit vor sich selbst rechtfertigen können. Dementsprechend ist die Arbeitslosigkeit ein Mittel gesellschaftlicher Disziplinierung, das mit vergleichsweise geringen Hemmungen angewandt werden kann, und auf relativ geringen Widerstand bei den Betroffenen stößt.

Die Kehrseite der Arbeitslosigkeit ist der Müßiggang. In der Regel gehören diese beiden Aspekte zusammen: Da sich dauerhafter Müßiggang aus einem Überschuss speisen muss, der von anderen erwirtschaftet wird, ist er in wie die Arbeitslosigkeit meist an eine Ungleichverteilung der Produktionsmittel gekoppelt. Nur Gesellschaften mit Arbeitslosigkeit kennen auch den regelmäßigen Müßiggang.
  Wenn nun jemand sich seinen Müßiggang von der Gesellschaft bezahlen lassen möchte, ohne dafür eine Gegenleistung in Form von ihm unterstehenden Produktionsmitteln zu bieten, dann entsteht naturgemäß eine große Empörung unter denjenigen, die diesen Müßiggang unterhalten. Diese Empörung wird gerne genutzt, indem man »Arbeitslosigkeit« und »Müßiggang« in einen Topf wirft und dadurch die Verantwortlichkeiten für die Arbeitslosigkeit verschleiert.
  Diese Verschleierung funktioniert auch deshalb so gut, weil sowohl Müßiggang wie auch Arbeitslosigkeit beide Ausdruck des Wohlstandes einer Gesellschaft sind und mithin nahe genug beieinander liegen, um auf den ersten Blick verwechselt zu werden. Sie unterscheiden sich nur in der Wirkrichtung: Während der Müßiggang selbstinduziert ist, wird Arbeitslosigkeit von denen geschaffen, die die Produktionsmittel kontrollieren, und denjenigen auferlegt, die auf eine Zuteilung von Produktionsmitteln angewiesen sind.

Wie oben dargelegt: Arbeitslosigkeit ist durchaus sowohl Ausdruck wie auch Instrument einer funktionierenden, effizienten Gesellschaft. Die Existenz von Arbeitslosigkeit in einem gewissen, möglichst geringem und am besten nur theoretischem Maße kann dem allgemeinen Nutzen dienen. Während aber das richtige Maß an Arbeitslosigkeit anspornend wirken kann, wirkt ein zu hoher Anteil an Arbeitslosigkeit destabilisierend – wie ein starker Motor, der zu hoch im Leerlauf dreht, das Fahrzeug nicht antreibt, sondern schließlich zerstören kann.
  Wenn also die Arbeitslosigkeit zu einem gesamtgesellschaftlichem Problem wird und anfängt, andere Mechanismen der Gesellschaft in Mitleidenschaft zu ziehen und zu überfordern, dann tut die Politik gut daran, nicht länger selbst auf die Verschleierungsmechanismen hereinzufallen, sondern sich den klaren Blick auf die Kausalketten zu erhalten. Arbeitslosigkeit verringern können nur diejenigen, die sie auch verursachen – und diese Personenkreise sind, wie oben gesagt, klar zu benennen.
  Wem wirklich an einer Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gelegen ist, der muss seine Maßnahmen auch auf diese Ursachen und Verursacher von Arbeitslosigkeit wirken lassen. Und im Moment sehe ich deshalb keine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorliegen, weil die Maßnahmen dagegen nicht wirklich auf die Ursachen zielen, sondern nur an den üblichen Stellschrauben drumherum drehen. Die Politik behandelt die Arbeitslosigkeit derzeit nicht wirklich als Problem an sich, sondern immer noch als ein Steuerungsinstrument, das nur ein wenig nachjustiert werden muss.
  Ob das gerechtfertigt ist, will ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Ich möchte mir auch nicht ein Urteil darüber anmaßen, ob die Politiker tatsächlich aus fehlendem Durchblick oder aus politischem Kalkül so handeln. Ist die Arbeitslosigkeit aus dem Ruder gelaufen, oder ist sie immer noch und auch in der heutigen Form ein legitimes und sachangemessenes Mittel gesellschaftlicher Steuerung? Wie auch immer es in Wahrheit aussehen mag: Offiziell wird stets Ersteres behauptet und letzteres geleugnet. Und vor diesem Hintergrund muss man doch feststellen, dass zwischen dem politischen Handeln und der politischen Rhetorik in Deutschland derzeit ein eine deutliche Diskrepanz zu erkennen ist.