Ein Streit um Worte

Was ich überhaupt nicht mag, das ist ein bloßer Streit um Worte. Ein Streit, in dem es gar nicht darum geht, was richtig ist und wer Recht hat, sondern nur noch ganz kleinkariert darum, wie ein Begriff richtig definiert wird. Oder besser noch: Wie man sich einen Begriff ganz schnell so definiert, dass man seinem politischen Gegner an den Karren fahren kann.

Ein solcher Streit um Worte nimmt immer denselben Verlauf:
  Er fängt damit an, dass eine Person - nennen wir sie mal den »Vorredner« - etwas sagt. Jeder versteht ganz genau, was diese Person gemeint hat, und jeder erkennt auch sofort, dass die Person Recht hat. Also, eigentlich kein Problem: Applaus für den Vorredner.
  Nun kommt aber eine weitere Person daher – nennen wir sie mal den »Korinthenkacker«. Der Korinthenkacker kann den Vorredner nicht leiden, und er will auch nicht, dass das, was der Vorredner sagt, richtig ist, weil er nämlich lieber eine falsche Meinung hat. Nun hat der Korinthenkacker allerdings das Problem, dass der Vorredner Recht hat und dass das auch jeder weiß. Eigentlich hätte der Korinthenkacker jetzt also verloren, müsste das Feld räumen und seinen Streit mit dem Vorredner ein andermal weiterführen. Das will er aber nicht.
  Also sucht sich der Korinthenkacker flugs ein einzelnes, aus dem Zusammenhang gerissenes Wort des Vorredners und sagt: »Schaut mal her, der hat das Wort ganz falsch verwendet. Schaut nur auf dieses Wort, dann seht ihr: Der Vorredner ist dumm und kann gar nicht Recht haben!« Dabei kann es sein, dass der Vorredner das besagte Wort tatsächlich falsch verwendet hat; aber das wäre nicht wirklich schlimm, denn es hat ihn ja trotzdem jeder verstanden.
  Es kann allerdings auch sein, dass der Vorredner das betreffende Wort ganz richtig verwendet hat. Das stört den Korinthenkacker auch nicht, denn dann erfindet er ganz schnell eine eigene Definition des Wortes, die um ein Haarbreit anders ist. Das reicht schon aus, um über das Wort zu streiten – denn bei einem Streit um Worte geht es gar nicht um richtig oder falsch. Es geht dem Korinthenkacker nur darum, dass jeder nur noch auf das eine Wort schaut und gar nicht mehr mitbekommt, was der Vorredner sonst noch gesagt hat. Und es geht darum, dass der Zuhörer nicht mehr so recht versteht, worüber hier geredet wird, und deshalb auch einen möglichst schlechten Eindruck vom Vorredner bekommt.

Und genau das passiert derzeit mit Angela Merkel, seitdem die Kanzlerkandidatin der CDU in einem Interview sagte, eine Senkung der Lohnnebenkosten ließe die Bruttolöhne sinken.
  Nun weiß jeder, was gemeint ist: Dass nämlich, wenn die Lohnnebenkosten sinken, der Firmenboss weniger Geld für seine Angestellten ausgeben muss. Das ist gut für die Wirtschaft, weil der Faktor Arbeit billiger und der Standort damit gestärkt wird. Nur leider ist das, was die Firma für ihre Angestellten ausgibt, nicht der »Bruttolohn« - der Lohn ist nur das, was direkt beim Angestellten ankommt, und das ändert sich bei einem Sinken der Nebenkosten nicht. Also hat Merkel tatsächlich den Begriff »Bruttolöhne« falsch verwendet.
  Was sich bei einer Senkung der Nebenkosten allerdings ändert, sind die »Nettolöhne«. Die allerdings sinken nicht: Die Nebenkosten werden nämlich vom Arbeitgeber und vom Empfänger des »Bruttolohns« jeweils zur Hälfte bezahlt. Wenn also die Nebenkosten sinken, zahlt nicht nur der Boss weniger, sondern auch der Angestellte – und so steigen die »Nettolöhne«, weil man von seinem »Bruttolohn« weniger abgeben muss.
  Das ist also eine tolle Sache, weil am Ende jeder mehr Geld im Portemonnaie hat (wenn der Staat nicht auf die Idee kommt, beim Angestellten noch mal extra zuzulangen und das gesparte Geld auf andere Weise aus der Börse zu fischen – aber das ist ein ganz anderes Thema). Darauf wollte Merkel jedenfalls hinweisen, und damit hätte sie auch vollkommen Recht gehabt und jeder hätte applaudieren können.
  Nur: Das hat sie leider nicht so gesagt. Entweder hat sie die »Brutto-« und die »Nettolöhne« und »sinken« und »steigen« durcheinandergeworfen, oder sie hat alles, was der Arbeitgeber für seinen Angestellten ausgibt, als »Bruttolohn« verstanden – und nicht nur dass, was am Ende zumindest auf der Abrechnung bei ihm ankommt. Diese feinsinnigen Unterscheidungen interessieren in der Praxis zwar keinen Menschen (denn der Arbeitgeber will nur wissen, wie viel er für den Angestellten ausgibt; und der Angestellte will nur wissen, wie viel er am Ende auf dem Konto hat); aber es eignet sich hervorragend, um einen Streit um Wort anzufangen.

Nun ist ja klar: Die SPD steht mit dem Rücken zur Wand und hat deshalb ein besonderes Interesse daran, die Herausforderin Merkel schlecht zu machen. Merkel hat jetzt im Prinzip was Richtiges gesagt, aber die SPD kann natürlich nicht zulassen, dass sie dafür Applaus bekommt. Also nutzen verschiedene K.., äh, Politiker der SPD aus, dass Merkel sich ungeschickt ausgedrückt hat.
  Sie streiten um die Bedeutung des Wortes »Bruttolohn«, und auch, wenn sie dabei in der Sache Recht haben, verschweigen sie geflissentlich, dass die Sache, in der sie Recht haben, niemanden interessiert. Nicht einmal sie selbst: Denn die Politiker, die diesen Streit um Worte vom Zaun gebrochen haben, interessiert nur, dass Merkel am Ende dumm dasteht und hoffentlich keiner mehr bemerkt, dass sie im Grunde auf etwas sehr Lobenswertes hinweisen wollte.
  Anstatt also über die Senkung der Lohnnebenkosten zu diskutieren und darüber, wie man dafür sorgen kann, dass sowohl die Wirtschaft wie auch der Bürger am Ende mehr Geld in den Taschen hat, reden sie lieber wie die Deutschlehrer über die Bedeutung von »Bruttolohn«. Na toll. Braucht man dafür Politiker?
  Wer frühere Einträge in meinem Blog gelesen hat, wird sicher sehr schnell erkennen, dass ich kein Freund von Merkels Kanzlerkandidatur bin und weiß Gott besseres zu tun wüsste, als sie in Schutz zu nehmen. Allerdings finde ich auch, es gibt eine Menge Inhalte, die man ihr ankreiden kann. Und wenn sie dann mal was sinnvolles sagt (oder sagen will), dann muss man das auch billigend zur Kenntnis nehmen. Denn genau das ist ja eine Crux der Parteipolitik, dass immer alles krampfhaft schlechtgeredet wird, wenn es nur vom politischen Gegner kommt.

Ein Streit um Worte ist also nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich. Und zwar schädlich in mehr als einer Hinsicht, mehr vielleicht, als die Herren von der SPD in dieser Frage einkalkulieren.
  Denn ein Streit um Worte lebt von der Dummheit der Zuhörer: Er funktioniert nur so lange, wie der Zuhörer ihn nicht durchschaut. Ein Streit um Worte will vernebeln, er will ablenken und er will verhindern, dass der Zuhörer sich mit Inhalten auseinandersetzt – sprich: Wer einen Streit um Worte anfängt, der will seinen Zuhörer für dumm verkaufen; der hält ihn sogar schon für dumm, denn nur so kann er hoffen, dass seine Rechnung aufgeht. Die Politiker der SPD, die jetzt allen Ernstes einen Streit um Worte anfangen, beleidigen ihre Wähler.
  Denn das Problem ist: Politik befasst sich mit dem wirklichen Leben. Wir sind hier nicht in der Schule, wo die genaue Wortwahl eingeübt wird. Wir sind kein erlauchter Kreis von Linguisten, die in den Heiligen Hallen der Universität um subtile Begriffsdefinitionen schachern. Auch ich bin im Alltag nicht ständig der Lektor, der jedes Wort auf die Goldwaage legt und jeden Satz mit dem Duden überprüft.
  Wir alle verwenden mal einen Begriff falsch, wenn wir uns unterhalten. Wir machen Fehler. Wir drücken uns unklar aus. Wir kommen mit Sätzen durcheinander. Wenn man nur ganz genau hinhört stellen wir schnell fest, dass kaum ein gesprochenes Wort druckreif ist. Aber, oh Wunder: Wir verstehen uns trotzdem!
  Kein Problem, meistens. Und ein Streit um Wort entsteht nur dann, wenn ein Gesprächspartner böswillig ist – oder dumm.
  Was also soll der Zuhörer denken, der alltagserprobt ist und klug genug, das unsicher gesprochene Wort zu verstehen? Wer also genau weiß, was Merkel sagen wollte, und der über die falsche Verwendung des »Bruttolohns« nur milde lächeln kann?

Ganz einfach: Dieser Zuhörer muss denken, dass jeder, der Merkels Aussagen nicht verstehen konnte, der sich an Begriffsdefinitionen aufhängt, schlichtweg dümmer ist als er selbst.
  Ich denke, diese Assoziationen sollten die SPD-Politiker berücksichtigen, ehe sie einen Streit um Worte anfangen. Was soll der Wähler davon halten: Soll er glauben, dass die SPD-Politiker nicht verstehen, was jeder andere versteht? Oder sollen sie glauben, dass die SPD-Politiker ganz genau verstanden haben, was gemeint war, dass sie aber die Wähler für so dumm halten, dass sie mit ihren Wortklaubereien Eindruck machen können?
  Beides wäre Anti-Wahlwerbung und, ja, beides wäre auch ein Ausdruck von Schwäche, was der gegenwärtigen Lage der SPD im Wahlkampf durchaus entspräche – aber wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, muss man das doch nicht so deutlich zeigen! Also, ich bitte darum: Lasst das sein. Ein wenig mehr Souveränität beeindruckt den Souverän viel mehr. Deutschland hat andere Probleme als die Deutschprobleme seiner Politiker.