Von »Ehrenmord«, Parallelgesellschaften und dem Gesetz

Nachdem das Urteil im »Ehrenmord«-Prozess nun gefallen ist, regt sich im großen und ganzen jeder darüber auf: Die Politik fordert schärfere Gesetze, Experten mahnen an, dass die besonderen Begleitumstände des Falles nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Und der Bürger auf der Straße ist ohnehin empört.
  Diesmal allerdings ist die Kritik durchaus berechtigt, und lässt sich auch durch eine nüchterne Analyse nachvollziehen.

Diese Analyse sollte durchaus an den Wurzeln ansetzen – und zwar nicht an den Wurzeln des gegenwärtigen Falles, sondern an denen unseres Rechtssystems: Warum gibt es Gesetze? Welches Recht verleiht überhaupt dem Rechtssystem an sich einen berechtigten Anspruch auf Geltung? Und warum wird ein Straftäter wie der »Ehrenmörder« verurteilt?
  Ich denke, der Gedanke an eine »Sühne« oder das »Wiederherstellen eines göttlichen Gleichgewichts« mutet in unserer Gesellschaft zu mittelalterlich an. Ein wenig Genugtuung kann Opfern oder Angehörigen Trost spenden und soll daher sicherlich mit der Rechtsprechung einhergehen. Aber wenn man unser Rechtssystem an diesen metaphysischen Vorstellungen verankern will, gerät man sehr schnell in einen Erklärungsnotstand:
  Zum einen bedeutet es ja, wenn man in einer Verurteilung einen »Ausgleich« für die Tat sehen will, dass man dem Verbrechen einen Wert beimisst, der sich abgelten ließe – und kann man 10 oder 20 Jahre Gefängnis tatsächlich als Kaufpreis für ein Menschenleben ansehen? Dürfte man vor diesem Hintergrund Jugendlichen Rabatte einräumen? Und zum anderen zeigt auch die Veränderung von Gesetzen, dass das Rechtssystem als höhere, außerweltliche Instanz nicht taugt. Wenn ein Gerichtsurteil »höhere Gerechtigkeit« und »Sühne für Sünde« sein soll, dürften Urteile auch nur von der Tat abhängen – und nicht beispielsweise vom Datum einer Gesetzesänderung.
  Tatsächlich rechtfertigen sich Gesetze in unserer Gesellschaft nicht durch mystische Vorstellungen von »Schuld und Sühne«, sondern schlicht durch eine Steuerungsfunktion: Sie sollen dafür sorgen, dass gewisse von der Gesellschaft und ihren Mitgliedern bzw. Parteiungen als schädlich empfundene Verhaltensweisen möglichst unterbunden werden.
  Das geschieht im Falle einer Haftstrafe natürlich zum einen dadurch, dass der Täter erst mal aus dem Verkehr gezogen wird und das sanktionierte Verhalten nicht unmittelbar fortführen kann. Außerdem wird durch die Bestrafung eine erzieherischer Effekt erhofft, der den Täter auch darüber hinaus davon abhält, das unerwünschte Verhalten zu wiederholen.
  Daneben – und das ist letztlich sehr viel bedeutsamer! - sollen die Gesetze und ihre Durchsetzung auch schon von vornherein dafür sorgen, dass potenzielle Täter das unerwünschte Verhalten gar nicht erst an den Tag legen. Im Falle eines Mordes bedeutet das: Es ist natürlich sinnvoll, einen Mörder an der Wiederholung seiner Tat zu hindern. Aber am meisten hofft man natürlich darauf, dass Gesetze und Strafen möglichst viele Leute davon abschrecken, überhaupt erst einen Mord zu begehen.

Das Unbehagen mit dem »Ehrenmord«-Urteil resultiert nun einfach aus der Tatsache, dass das Urteil nur der mittelalterlichen, metaphysischen Vorstellung von »Schuld und Sühne« gerecht wird: Ein Mord wurde begangen, und er wurde so gesühnt, wie es bei Morden eben üblich ist. Nicht mehr, nicht weniger.
  Aber im Sinne einer vernünftigen, auf Nützlichkeit bedachten Betrachtung des Rechtssystems versagt das Urteil völlig. Es ist nicht geeignet, die unerwünschte Straftat zu verhindern, sondern lädt förmlich zu weiteren »Ehrenmorden« ein. Warum?
  Wenn man es näher betrachtet, trennt dieses Urteil den Ehrenmord vom gewöhnlichen Mord und stellt klar, dass nur der Mord an sich verwerflich ist, aber nicht die speziellen Begleitumstände der konkreten Tat. Indem das Urteil nämlich aus dem gesamten Tatkomplex nur den reinen Mord herausnimmt und bestraft, die anderen Begleitumstände aber unberücksichtigt lässt, macht es deutlich, dass unser Rechtssystem diese Begleitumstände nicht zu unterbinden wünscht.

  Und, wie oben schon angedeutet: Folgerichtig ergibt sich aus diesem mittelalterlichen Rechtsverständnis die Möglichkeit, der Tat einen Wert zuzuweisen und quasi »aufzurechnen«: Die Rechtsprechung lässt zu, dass die Täter ihr Verbrechen zu dem für sie günstigsten Preis »einkaufen« können, indem sie die Tat entsprechend planen. Und damit ordnet sich die Rechtsprechung unserer Gesellschaft im Grunde den Rechtsprinzipien einer Parallelgesellschaft unter, indem es bei deren Kalkül bereitwillig mitspielt.
  Ich weiß nicht, ob die gegenwärtige Rechtslage tatsächlich kein anderes Urteil zugelassen hätte. Wenn dem so ist, wäre es dringend erforderlich, die Rechtslage zu ändern – wenn unsere Gesellschaft Interesse daran hat, Morde zur Durchsetzung konkurrierender Rechtssysteme zu verhindern. Denn es sollte klar sein, dass das zu steuernde Verhalten in diesem Falle nicht der Mord an sich ist, sondern eben die Ausbildung dieser Parallelgesellschaft, sei sie nun im familiären oder im ethnisch/kulturellen Rahmen.
  Ein grundsätzliches Problem sehe ich dabei nicht. Zum einen hatten wir auch in der Vergangenheit unserer eigenen Kultur bereits entsprechende »Parallelgesellschaften« auf Sippen- oder Standesbasis, die durch eine entsprechend darauf abgestimmte Gesetzgebung zerschlagen wurden. Man sollte nicht vergessen, das unser gegenwärtiges, möglichst maximal auf individuelle Verantwortung zielendes Sanktionssystem historisch gesehen auf eben dieser erfolgreichen Zerschlagung konkurrierender Systeme aufbaut, und dass sie auch nur vor diesem Hintergrund funktionieren kann.
  Zum anderen habe ich auch nicht das Gefühl, dass man dazu weit hinter unsere gegenwärtigen Standards zurückfallen müsste; die Gesetzgebung im Bereich verfassungsfeindlicher Organisationen und Symbole sowie »Mitgliedschafts«-Regelungen zeigen durchaus, das unser jetziges System auf dem Feld individueller Schuld und Verhältnismäßigkeit eine gewisse Flexibilität zulässt, um gesellschaftlich als höherwertig erachtete Ziele durchzusetzen.
  Allerdings denke ich, dass der Zeitfaktor hier eine wesentliche Rolle spielt. Die Sippen- und Standesgesellschaft in Europa zugunsten eines einheitlichen Rechtssystems aufzulösen, hat Jahrhunderte gedauert, und die dafür notwendigen notwendigen Regelungen waren nach heutigem Verständnis drastisch; niemand kann daran gelegen sein, in die frühe Neuzeit zurückzukehren und diesen Kampf gegen gewachsene und etablierte Strukturen noch einmal auszutragen. Also muss dafür gesorgt werden, dass unser Rechtssystem sofort die Strukturen trifft, die rechtswidriges Verhalten produzieren; und zwar, bevor Parallelgesellschaften mit eigenen Rechtsvorstellungen sich hier erst etablieren können.

Während also noch darüber diskutiert wird, ob man es Einwanderern zumuten kann, sich einer nebulösen »deutschen Leitkultur« unterzuordnen, geht es tatsächlich um eine ganz andere Frage: Ob man anderen kulturellen Strömungen in Deutschland erlauben darf, ihre Angehörigen gewaltsam auf die eigenen kulturellen Vorstellungen einzuschwören. Wägt man diese beiden Pole gegeneinander ab, wirkt die »Leitkulturdiskussion« seltsam »bedenkenträgerisch« - es sollte eigentlich klar sein, dass es besser ist, in dieser Hinsicht ein wenig über das Ziel hinauszuschießen, als das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen zu lassen.
  Einer solchen politischen Aufgabe konnte das Gericht im vorliegenden, konkreten Einzelfall möglicherweise gar nicht gerecht werden. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, es wäre hier schon ein anderes Signal gesetzt worden.