Nasse Füße

Mehr als ein Woche ist vergangen, zumindest die Wogen der Aufregung glätten sich allmählich und man kann deutlicher beurteilen, was geschehen ist, was schief gelaufen. Ich spreche natürlich vom Hochwasser in New Orleans, und nachdem ich anfangs sehr zurückhaltend war, weil man nicht sicher sein konnte, was aus dem Chaos der Informationen wirklich glaubwürdig war, möchte ich mich nun doch dazu äußern.
  Aber braucht man überhaupt noch eine Äußerung zu dem Thema im Mediensturm, der der tatsächlichen Katastrophe folgte? Oder gar einen Blog-Eintrag, zumal weitab aus Deutschland, wo doch genug Blogger vor Ort und Stelle authentische Berichte liefern?
  Nun, ich liefere natürlich keinen Bericht. Ich liefere ein Stimmungsbild, wie die Katastrophe mich getroffen hat. Und das ist naturgemäß ganz anders als bei den tatsächlichen Opfern. Und ich denke, das, was mich bewegt, liegt letztlich auch den anderen deutschen Lesern hier viel näher. Denn sie teilen mit mir doch dieselbe Perspektive – eine Perspektive, aus der die tatsächlichen Schäden sehr fern liegen, aber die Wucht des Ereignisses trotzdem Erschütterungen verursacht.

New Orleans war nicht nur ein namenloser Strand in exotischen Ländern. In New Orleans ging mehr verloren als Menschenleben oder materielle Werte: In viel größerem Umfang als bei früheren Naturkatastrophen war die Verwüstung von New Orleans ein Ereignis, das unmittelbar einen Teil unser aller Lebenswelt vernichtet hat. Ein Teil der westlichen Zivilisation, einen Teil der Welt, in der wir aufgewachsen sind und der wir uns zugehörig fühlen.
  Ich denke, der erste Impuls nach dieser Katastrophe ist derselbe wie beispielsweise bei dem Tsunami in Ostasien: Man denkt an die Toten, man ist entsetzt von den Verwüstungen. Man wünscht sich Hilfeleistungen und ist umso erschütterter, wenn diese Hilfe scheinbar nicht ankommt. Und doch ... Nach dem entsetzlichen Tsunami drehte die Welt sich irgendwann weiter. Neue Tote, neue erschütternde Ereignisse fingen die mediale Aufmerksamkeit. Und die betroffenen Strände waren ja immer noch da, und die Aufräumarbeiten waren im Gange. Es war etwas Furchtbares geschehen, aber die Welt hatte sich trotzdem nicht geändert.
  Jetzt aber ist ungewiss, ob New Orleans überhaupt gerettet werden kann, und wenn New Orleans verschwindet, von den Fluten verschluckt wie einst Atlantis, Vineta oder andere legendäre Orte, dann hat die Welt sich verändert. Den New Orleans ist mehr als ein Begriff – es ist ein Ort, mit dem man etwas verbindet! Wer von uns kennt kein Filme, die in New Orleans gespielt haben? Wer hat keine Bücher gelesen, in denen dieser Ort eine Rolle spielte? Wer hat kein Bild vor Augen – und sei es auch nur ein klischeebeladenes Fantasiebild – wenn dieser Name fällt? New Orleans war Teil unserer Welt. Wir alle, auch wenn wir nie dort waren, sind irgendwie mit New Orleans groß geworden. Es ist nicht nur ein Name, sondern ein Ort, dessen bloße Erwähnung eine gewisse Stimmung suggeriert und der für eine Facette unserer gemeinsamen westlichen Kultur steht.
  Schwer vorstellbar, dass es diesen Ort nicht mehr geben soll, dass er einfach fortgespült wurde und womöglich unwiederbringlich verloren ist. Ein beängstigender Gedanke. Sic transit gloria mundi ...

Der erste Reflex ist also natürlich Trotz. Der Mensch stemmt sich der Veränderung entgegen, er will nicht loslassen, was er als sein Eigentum empfindet. Also habe auch ich das Gefühl, dass die Stadt wieder aufgebaut werden muss. Es ist das Gefühl, dass die Welt, die ich kenne, bedroht wird, und an dieser Stelle auch gerettet werden muss.
  Wenn ich allerdings nüchtern darüber nachdenke, zweifle ich an der Vernunft dieser Regung. Denn der Untergang von New Orleans war kein Zufall – er war Ausdruck einer realen Veränderung der Welt. Die Stadt liegt unter dem Meeresspiegel, Hurricanes werden in der Gegend gewiss nicht seltener auftreten und im Zuge des Klimawandels wird der Wasserspiegel womöglich noch ansteigen. Wer also die Entscheidung trifft, New Orleans wieder aufzubauen, der nimmt damit in Kauf, dass man sich auf einen tödlichen Wettlauf einlässt, der Jahrzehnte andauern wird. New Orleans wird stetig am Rand der Katastrophe weiterexistieren, und selbst wenn man die Stadt dem Meer abtrotzen kann, dann vielleicht zu einem Preis, der später anderswo umso größere Opfer fordern wird.
  Und der Erfolg ist trotzdem ungewiss: Selbst wenn man New Orleans an derselben Stelle wieder aufbaut, wird es möglicherweise doch nicht mehr dieselbe Stadt sein: Wie kann Leichtigkeit entstehen hinter den Mauern, die nötig wären, um den Standort zu halten? Wie kann das New Orleans, die Empfindung, die wir damit verbinden, im Schatten einer ständigen Bedrohung weiterbestehen?
  Also, wenn man den Ort ohnehin nicht retten kann, so sagt mir die Vernunft, dann kann man ihn auch gleich aufgeben und die Stadt anderswo und zukunftssicherer wieder aufbauen. Das aber würde auch bedeuten, dass das New Orleans, das wir kennen, tatsächlich unwiederbringlich verloren ist. Vergangen. Es wird allenfalls eine neue Stadt geben, die nur zufällig denselben Namen trägt. Ein »New New-Orleans«, dass mit New Orleans nicht mehr gemeinsam hat als dieses mit Orleans in Frankreich.
  Dieses offene Eingeständnis menschlicher Machtlosigkeit gegen den Lauf der Zeiten fällt schwer, und ich weiß nicht, ob vor allem die Amerikaner vor Ort schon so weit sind, in dieser Angelegenheit auf die Vernunft zu hören und zurückzuweichen. Man wird sehen, und ich bin irgendwie zwiegespalten, denn ich muss zugeben: Ein Wiederaufbau an Ort und Stelle wäre womöglich ein Fehler und eine schwere Hypothek auf die Zukunft. Aber jetzt, in diesem Augenblick, hätte es etwas Beruhigendes an sich, etwas Tröstliches.

Denn wenn New Orleans endgültig fortgespült ist, muss man sich der Erkenntnis stellen, dass es mehr war als eine zufällige Katastrophe. Es war die Ankündigung eines Wechsels, das erste spürbare Glied in einer ganzen Kette von Veränderungen. Die westliche Zivilisation hätte das erste deutlich eingrenzbare Opfer der Klimakatastrophe zu beklagen, und es wäre ein Beginn mit einem Paukenschlag.
  Ich persönlich halte nicht viel von Panikmache und Weltuntergangsstimmung. Die Menschheit wird einen solchen Wandel überleben. Die Geschichte geht weiter – die Menschheit hat schon viele Klimakatastrophen überlebt und verdankt überhaupt den Aufstieg der Zivilisation nur einer solchen. Worst-Case-Szenarios treten selten ein, und das, was tatsächlich geschieht, wird vermutlich irgendwo unterhalb der Horrorphantasien liegen, die inzwischen ja auch ihren Weg ins Kino gefunden haben.
  Andererseits gehen auch blauäugige Prognosen selten in Erfüllung, und klimatische Veränderungen haben auch in der Vergangenheit oft genug Imperien und Kulturen vernichtet. Die Lage ist also durchaus ernst: Etwas wird geschehen, die Veränderung kommt und ist, bei ehrlicher Wertung der Faktenlage, auch durch ein bisschen Umweltschutz nicht mehr aufzuhalten. Die Menschheit wird es überstehen. Und die westliche Zivilisation ist stark und gut organisiert und hat eine Chance, sich an die veränderte Lage anzupassen – aber es wird ein Kampf werden, und am Ende dieses Jahrhunderts würden all diejenigen, die die Welt so kennen, wie sie heute ist, diese Welt nicht mehr wiedererkennen.
  Das muss nicht so schlimm sein. Es ist zunächst einmal einfach nur eine Veränderung, und Veränderungen gehören zum normalen Lauf der Geschichte. Aber es ist schlimm für die Menschen, deren Welt durch den Wandel vergeht; und vermutlich wird es auch materiell schlimmer sein, als wir es uns jetzt erhoffen. Das ist die nüchterne Analyse.
  Aber New Orleans bedeutet mehr, als die nüchterne Analyse verrät. Es ist ein Symbol, und zugleich auch ein Einbruch der nüchternen Gedankenspiele in unsere Lebenwirklichkeit. Wenn New Orleans aufgegeben wird, wäre es die erste fühlbare Auswirkung des Wandels. Wir alle können jetzt spüren, wie sich die Welt verändert, und wenn wir uns dieser Erfahrung ernsthaft stellen und nicht versuchen, zu verdrängen und die Sturmflut als einmalige Katastrophe abzutun, dann können wir auch empfinden, was dieser Wandel wirklich bedeutet. Und diese Empfindung ist beängstigend.
  Für mich ist New Orleans nicht nur eine Naturkatastrophe. Es ist der Anfang einer Veränderung. Es ist ein Wegweiser in die Zukunft. Es ist ein Fanal, dass uns einmal mehr vor Augen führt, dass die Welt nicht so unveränderlich ist, wie wir es gerne hätten.

Und ich fühle den Impuls, sich dagegenzustemmen. Die Stadt wieder aufzubauen, nicht zurückzuweichen. So zu tun, als wäre nichts geschehen und als könne es immer so weitergehen. So zu tun, als wären wir stark genug, den Wandel aufzuhalten.
  Als Historiker aber weiß ich auch, dass gerade dieser Impuls es ist, der dafür gesorgt hat, dass Imperien und Kulturen bei klimatischen Veränderungen untergingen: Weil sie sich allzu gern im Glanz vergangener Glorie gesonnt haben und nicht bereit waren, sich stromlinienförmig anzupassen. Weil sie der Baum waren, der sich im Sturm nicht beugt und deshalb bricht. Weil sie sich zu Beginn der Veränderung trotzig den Kräften der Natur in den Weg gestellt haben und glaubten, sie könnten einfach nur das tun, was sie immer getan haben – sie müssten es bloß stärker tun.
  Und so haben diese Kulturen sich nicht biegsam durch die Veränderungen bewegt und überlebt, sondern, als die Veränderung mit der größten Wucht über sie hereinbrach, standen sie ihr mit voller Fläche entgegengestemmt da. Und wurden weggerissen. Die Infrastruktur verschlungen in einem aussichtslosen Kampf gegen die Elemente, bei dem Versuch, den Status quo zu halten, anstatt einen neuen, zukunftssicheren Status quo zu suchen, der sich harmonisch in die neue Umwelt fügt. Und das macht mir Angst.
  Ich sehe bei New Orleans meiner eigenen Schwäche ins Auge. Ich möchte am liebsten den Fehler machen, den ganze Kulturen vor mir gemacht haben, und hoffe zugleich, dass die westliche Zivilisation stark genug ist, diesem Drang zu widerstehen. In New Orleans haben wir der Geschichte jetzt ins Auge geblickt. Und die Geschichte lässt sich nicht aufhalten. Aber im Gegensatz zu der Geschichte, die Vergangenheit ist, haben wir in diesem Fall noch die Chance, sie zumindest aktiv zu gestalten und ihr eine Richtung zu geben.
  Ich hoffe, wir werden sie nutzen.