Sozialkrieg in Deutschland

Nun ist Hartz IV also teurer, als manch einer sich das gedacht hat. Und jetzt geht die Klage über böse Abzocker und Sozialbetrüger los.
  Über eines allerdings sollte man sich von vorneherein im Klaren sein: Manch ein Krieg muss vielleicht geführt werden. Aber in einem Krieg gibt es immer Opfer, auch auf der eigenen Seite. Und selbst bei einem »gerechten« Krieg darf man sich nicht beschweren, wenn die Gegenseite zurückschießt.
  Was hat Hartz IV nun mit einem Krieg zu tun? Nun, das ganze Konzept setzt auf Konfrontation statt auf Kooperation. Es wird getragen von dem Gedanken, dass man Arme und Arbeitslose bekämpfen muss, um Armut und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dahinter steckt die Überlegung, dass sich die Probleme nur durch die Eigeninitiative der Armen und Arbeitslosen lösen lassen, und dass man diese Eigeninitiative am besten aktiviert, indem man Druck ausübt.
  Vielleicht stimmt das sogar. Trotzdem bleibt es zunächst einmal ein Kampf gegen die Armen und Arbeitslosen – selbst wenn es ein gerechter und sinnvoller Kampf sein sollte. Eine Gesellschaft, die so etwas anfängt, darf über die Konsequenzen keine Krokodilstränen vergießen. Mehr noch: Sie hat selbst die moralische Rechtfertigung für diese Konsequenzen geliefert.
  Der Staat, der hier die Solidarität aufkündigt, darf auf der anderen Seite keine Solidarität einfordern, sondern muss sie selbst durch administrative Maßnahmen ersetzen. Wenn das nicht klappt, darf er kein Mitleid für sein Versagen erwarten – er hat dieses Szenario bestellt.

Nun bin ich keineswegs ein grundsätzlicher Gegner von Hartz IV. Vielen Betroffenen geht es schlechter als früher – ich kenne aber auch Betroffene, denen es heute besser geht, und ich möchte behaupten, dass dies gerade auch diejenigen sind, die man wirklich als bedürftig ansehen kann.
  Es mag also sein, dass Hartz IV eine gewisse Gerechtigkeitslücke schließt. Es mag auch sein, dass es tatsächlich sogar ein »gerechter Krieg« ist – dass also der langfristige Nutzen dieser Sozialreform das Leid überwiegt.
  Aber das ändert nichts daran, dass es in gewisser Hinsicht ein „Krieg“ bleibt, und zwar ein Krieg, der auch »Kollateralschäden« fordert. Weil es nun mal nicht genug Arbeitsplätze für alle gibt, bleiben zwangsläufig Betroffene übrig, die selbst bei größter Eigeninitiative nichts an ihrem Schicksal ändern können – aber trotzdem so behandelt werden, als wären sie „selbst schuld“. Und es gibt Menschen, die aus persönlichen Gründen zu schwach sind, um aus ihrem Loch herauszukommen, und die man nur noch tiefer hineinstößt, wenn man Druck auf sie ausübt.
  Der Staat nimmt diese Verluste billigend in Kauf. Und auf der anderen Seite empört er sich darüber, dass manch findiger Betroffene nun seinerseits versucht, alle Vorteile herauszuschlagen? Das passt nicht zusammen.
  Zumal der Staat selbst ebenso handelt, jede Lücke in seinem Sinne auszunutzen versucht und damit die Maßstäbe vorgibt: Zwischen einer losen Freundschaft und einer eheähnlichen Gemeinschaft gibt es zahllose Abstufungen. Wenn man aber hört, dass schon ein Schlafanzug in der Wohnung ausreicht, um manchen Beamten eine »Bedarfsgemeinschaft« annehmen zu lassen, so geht diese Auslegung deutlich über das Volksempfinden hinaus. Fazit: Der Staat versucht nach Kräften, Bedürftigen auch jenseits dessen, was Recht und billig ist, die Hilfen vorzuenthalten. Manch einer bekommt da sicher weniger, als ihm zusteht, weil er nicht die Kraft hat, sich sein Recht zu verschaffen.
  Soll es da wirklich moralisch fragwürdig sein, wenn findigere Hilfsempfänger auf der anderen Seite versuchen, ihre Situation in dem Maße schlechter darzustellen, wie der Staat sie schönredet, und sich dann etwas mehr verschaffen, als ihnen zusteht? Ich habe eher das Gefühl, dass sich da unterm Strich einiges ausgleicht – nicht immer zugunsten der wirklichen Bedürftigen. Aber da der Staat die Regeln in diesem Spiel vorgegeben hat, ist es auch seine Aufgabe, diese Folgen zu reparieren; es kann nicht die Aufgabe der Betroffenen sein, denen man diese Regeln aufgezwungen hat, willig mitzuspielen und eine einseitige Benachteiligung zu akzeptieren.
  Denn wer die Regeln vorgibt, muss dann auch in der Lage sein, damit zu arbeiten – ohne die Schuld anderen zuzuweisen.

Um das zu erreichen, wird schon seit Längerem über eine notwendige Ausweitung von Kontrollen diskutiert. Man sollte sich aber auch darüber im Klaren sein, was das bedeutet und wohin die Reise geht. Beispiel Wohnraumkontrollen: Die Unverletzbarkeit der Wohnung ist ein vom Grundgesetz geschützter Wert, der nun also auf breiter Front mal eben unterlaufen werden soll. Und diesmal ist es nicht etwa die Polizei, die Grundrechte übertreten darf, und es ist auch kein richterlicher Bescheid nötig – vielmehr soll jeder Kontrolleur mal eben nach Lust und Laune entscheiden, ob das Grundgesetz beachtet werden soll oder ob es doch nicht so wichtig ist.
  Der Missbrauch, der damit verhindert werden soll, wurde einmal folgendermaßen beziffert: »Weit über 10% der Hartz-IV-Empfänger« sollen illegale Leistungen beziehen. Da diese Schätzung vom Wirtschaftsminister unserer alten Regierung stammte, kann man davon ausgehen, dass sie zwar möglicherweise nicht richtig ist – aber gewiss nicht zu tief gegriffen. Inzwischen gibt es exaktere Studien, die zu geringeren Zahlen geführt haben – aber rechnen wir mal mit diesen 10% weiter, die man als „Worst-Case-Szenario“ der „üblen Hartz-IV-Empfänger“ ansehen kann.  Und selbst diese hoch gegriffenen 10% würden bedeuten, dass bei verstärkten Kontrollen fast 90% der Hartz-IV-Empfänger den Schutz des Grundgesetzes nur noch eingeschränkt genießen dürfen, obwohl sie selbst sich immer korrekt verhalten haben.
  Weiterhin kann man davon ausgehen, dass nicht alle Empfänger illegaler Leistungen Betrüger und Abzocker sind. Darunter dürften auch eine Menge Leute sein, die einfach durch einen Fehler in der Abrechnung oder beim Ausfüllen bzw. Bearbeiten der Formulare zu viel kassieren; oder verzweifelte Existenzen, denen wirklich das Wasser bis zum Hals steht, und die sich durch »Schönrechnen« kleinere zusätzliche Beträge hinzuschummeln. Probleme mit Formularen oder ein Betrug von vielleicht 20 Euro reicht dem Staat also auch schon aus, um die Bestimmungen des Grundgesetzes zu umgehen?

Nun bin ich kein Sozialromantiker und auch kein Rechtsidealist. Gesetze kommen und gehen, auch das Grundgesetz ist nicht auf alle Zeiten festgeschrieben. Die Gesellschaft, in der wir leben und die wir für die beste aller Gesellschaften halten, wird sich auch irgendwann verändern. So viel habe ich als Historiker gelernt.
  Wir können nur versuchen, ein wenig zu bestimmen, in welche Richtung die Reise geht.
  Und diese Richtung finde ich derzeit ein wenig beunruhigend.

Denn unabhängig von der Tatsache, ob Hartz IV sinnvoll und gerecht ist, ob soziale Einsparungen nötig sind, unabhängig also davon, ob all diese Dinge in der Sache gerechtfertigt sind, muss ich doch feststellen, dass das Instrumentarium zu Bewältigung sozialer Konflikte in atemberaubendem Tempo heraufgeschraubt wird.
  Wenn es also als gerechtfertigt gilt, für komplette Bevölkerungsschichten Grundrechte einzuschränken, um einen kleinen Prozentsatz Krimineller aufzuspüren, so ist das mehr als eine Verwaltungsmaßnahme. Es ist ein Präzedenzfall, bei dem man sich unwillkürlich fragt, welche Grundrechte für wen als nächstes mit derselben Begründung abgeschafft werden können.
  Und da der Umgang in einer Gesellschaft über kurz oder lang immer dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgt, fragt man sich doch: Wie definieren die solcherart nicht nur sozial schlechter gestellten, sondern auch entrechteten sozial Benachteiligten in Zukunft die Verhältnismäßigkeit ihres Handelns gegenüber Staat und Gesellschaft? Ist es wirklich sinnvoll, die über 90% der Hartz-IV-Empfänger, die im Augenblick offenbar noch halbwegs mit dem System konform agieren, prophylaktisch stärker aus dem Wertesystem unseres Rechtsstaats auszugrenzen – oder zahlt man am Ende drauf, wenn man zwar die Schlupflöcher im System schließt, aber zugleich dafür sorgt, dass im Gegenzug zehn mal so viele Betroffene wie vorher mit noch geringeren Hemmungen nach solchen Schlupflöchern suchen?