Von Skandalen und solchen, die dazu gemacht werden

Was derzeit in der Presse als »Bundeswehrskandal« aufgebauscht wird, spiegelt schlichtweg die gesellschaftliche Realität wieder. Das Verhalten mag, je nach Einzelfall, tatsächlich Leichenschändung sein, oder nur grober Unfug, oder auch überhaupt nichts außer geschmacklos – das würde ich zumindest bei dem letzten Bild sagen, das ich heute in der Rheinischen Post gesehen habe und wo ein Soldat sich einen Totenschädel einfach nur auf die Schulter gesetzt hat.
  Aber was auch immer diese Vorfälle in strafrechtlicher Hinsicht sein mögen, sie sind zunächst einmal eines: Sie sind bei einem beliebigen Ausschnitt unserer Bevölkerung in der Altersgruppe dieser Soldaten und unter den gegebenen Verhältnissen zu erwarten.
  Was hier als »Leichenschändung« verkauft wird, ist tatsächlich fester in unserer Gesellschaft etabliert, als man denkt. Nicht jedes pietätlose Rumhantieren mit Gebeinen wird als verwerflich angesehen – je nachdem, wer da hantiert, wie alt die Toten sind und wo sie gefunden werden, gilt das, was in dem einen Fall strafrechtlich verfolgt wird, in anderen Fällen als gesellschaftlich akzeptierte Praxis, an der sich auch Professoren (vor allem der Geschichte und der Archäologie) und angesehene Künstler beteiligen (denn auch da habe ich schon einige mit Totenschädel zur Selbstdarstellung posieren sehen).
  Es gibt also in unserer Kultur kein absolutes Tabu, das die betreffenden Soldaten in Afghanistan gebrochen hätten. Der »korrekte« Umgang mit Toten kann, je nach Umständen, sehr variieren, und es ist zu erwarten, dass auch das Verhalten der Soldaten diese gesellschaftlich verankerten Traditionen widerspiegelt.
  Wenn man also ein paar beliebige Deutsche, insbesondere junge Männer, aus der Mitte unserer Gesellschaft herausgreift, eine Gruppe bilden und über ein paar Gebeine stolpern lässt, dann würde ich in etwa folgendes Verhalten für normal halten: Die eine Hälfte ekelt sich so sehr, dass sie die Knochen nicht anfassen wird. Ein paar davon dürften trotzdem fasziniert sein, beteiligen sich vielleicht mit verbalen Makaberheiten. Die andere Hälfte ist prinzipiell bereit, diese Gebeine in die Hand zu nehmen. Manche nur kurz und mit, mehr oder minder angenehmem, Grusel. Eine werden einen Totenschädel als Souvenir mitnehmen wollen, andere lassen sich fotografieren. Einige spielen vielleicht damit herum, um zu zeigen, wie cool sie sind. Und gerade diejenigen, die sich ekeln, werden damit zu einer Eskalation beitragen und die Verrücktesten am anderen Ende der Skala provozieren, besonderen Blödsinn zu treiben.
  Ob man also diese »Verrückten am anderen Ende der Skala« wirklich in der Bundeswehr braucht, darüber mag man geteilter Meinung sein. Wenn allerdings ein General schon der Ansicht ist, dass niemand etwas in der Truppe verloren hat, der prinzipiell mit einem Totenschädel posieren und sich fotografieren lassen würde, dann müsste er folgerichtig etwa die Hälfte seiner Leute entlassen. Ob die Hälfte, die dann übrig bleibt, die besseren Soldaten wären, sei dahingestellt ...
  Wohlgemerkt: Ich glaube nicht, dass auch nur eine der Personen im genannten Beispiel hier in Deutschland tatsächlich einen Friedhof schänden oder eine andere damit verwandte Straftat begehen würde. Alles, was ich oben an Verhaltensweisen beschrieben habe, kann von Personen gezeigt werden, die übliche Grenzen der Pietätlosigkeit einhalten. Denn in Afghanistan wurden die Gebeine, nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, ja auch nicht auf einem gekennzeichneten Friedhof »geschändet«, sondern auf freiem Feld gefunden – in einer Situation mithin, die äußerlich mit denen vergleichbar ist, in denen auch in Deutschland die Tabus zum Umgang mit Toten schon gelockert sind.
  Also: Nicht jedes Foto, auf dem ein Soldat mit einem Totenschädel posiert, beschreibt eine skandalöse Leichenschändung. Manch ein Verhalten mag man so einordnen können; anderes ist grober Unfug, anderes normal – s. o. Und sinnvoll wäre es, all diese Einzelfälle genau so zu behandeln, wie sie auch im Einzelfall zu bewerten sind.

Ein Skandal wird höchstens daraus, wenn man sich überlegt, wer sich durch ein solches Verhalten auf den Turban getreten fühlen könnte und was das dann für die Sicherheit der Soldaten in der Region bedeuten kann. Kann man also nicht schon allein aus diesem Grund erwarten, dass unsere Soldaten ein solches Verhalten tunlichst vermeiden?
  Ich denke, nein. Denn wie oben dargelegt, bewegen sich die Vorfälle im normalen Spektrum von Verhaltensweisen innerhalb unserer Kulturkreises. Und man kann nicht erwarten, dass ins Ausland entsendete Soldaten sich die Kultur des Ziellandes aneignen und zum Maßstab ihres Handelns machen – und, ehrlich gesagt, ich lege auch keinen besonderen Wert darauf, dass in absehbarer Zeit zahlreiche Soldaten nach Deutschland zurückkehren, die sich allzu sehr an ihre jeweiligen Zielländer assimiliert haben.
  Denn was auch immer man von humanitärem Auftrag etc. erzählen mag – es sind immer noch Soldaten. Was also an Anpassung an die Zielsituation erwartet werden kann, muss sich mit klaren Befehlen, Richtlinien, Handlungsanweisungen abdecken lassen. Aber man muss immer damit rechnen, dass die Soldaten vor Ort nicht aktiv ein durchgreifendes Gespür für die Gesamtsituation entwickeln und im Einzelfall in Fettnäpfchen treten; wenn man das nicht in Kauf nehmen kann, darf man keine Soldaten versenden.
  Was für einen Sinn hat es also, wenn die Bildzeitung nun auf den Vorfällen herumreitet? Es mag sein, dass in Einzelfällen disziplinarwürdiges Fehlverhalten von Soldaten vorlag – das sollte dann in der Truppe auch entsprechend aufgearbeitet werden. Es mag sein, dass die Richtlinien für die Truppen vor Ort in diesem Punkt überarbeitungswürdig sind – aber das wird das Grundproblem nicht lösen, nämlich dass Soldaten immer Dinge tun werden, die möglicherweise Anstoß erregen können. Und wenn das Verhalten dieser Soldaten die Akzeptanz und Sicherheit der Truppen vor Ort gefährdet, dann multipliziert gerade das mediale Herumreiten auf den Vorfällen die Bedrohung noch.

Keine Frage: Von Soldaten wird ein korrekteres und disziplinierteres Verhalten gefordert als von normalen Mitgliedern unserer Gesellschaft. Wenn die Bildzeitung allerdings glaubt, einen Skandal daraus machen zu können, dass das Verhalten verschiedener Bundeswehrsoldaten nicht korrekter und disziplinierter ist als das des durchschnittlichen Deutschen, so sollte man ein Missverständnis gleich klarstellen: Das strikte Disziplinarrecht kann nicht dazu dienen, das geforderte Verhalten unbedingt durchzusetzen. Es dient nur dazu, auch unter extremen Bedingungen einen nicht immer vorteilhaften Querschnitt der Normalbevölkerung nicht allzu weit unter das übliche Verhaltensniveau abfallen zu lassen.
  Denn eine Armee, die im Alltag so auftritt, wie es hier in Deutschland nur die Pfarrer von der Kanzel predigen, die hat es noch nie gegeben und sollte auch in Zukunft kein Beurteilungsmaßstab sein.