Wo die Ärzte sparen können

Viele Arztpraxen blieben in den letzten Tagen geschlossen, weil die Ärzte protestierten. Über unbezahlte Arbeitszeiten, und das ist sicher auch ein guter Grund zum protestieren. Grund zur Klage haben in erster Linie natürlich die Krankenhausärzte, die ihre Arbeitszeiten ja vorgegeben kriegen und keine große Gestaltungsfreiheit haben. Aber auch die Praxisärzte sind unzufrieden: Dank Budgetdeckelungen müssen sie vielfach einen Monat im Jahr umsonst arbeiten.
  Tatsächlich kann man von niemandem verlangen, umsonst zu arbeiten – nun gut, verlangen kann man viel, nur richtig wäre das nicht. Zuallererst wäre allerdings die Frage zu stellen, ob die niedergelassenen Ärzte nicht selbst etwas dazu beitragen können, ihre Arbeitszeit zu verkürzen, die Budgets zu schonen und nur so viel zu arbeiten, wie sie auch bezahlt kriegen.
  Denn, um mal den Vergleich mit einem anderen selbstständigen Beruf zu wagen: Wenn der Klempner zu ihnen ins Haus kommt und ein Rohr kaputtschlägt, dann würden sie ihm doch auch nicht die Arbeitszeit bezahlen, die er braucht, um das Rohr wieder zu reparieren.

Dazu fällt mir zunächst mal ein Beispiel aus der Praxis ein: Jemand aus meiner Verwandtschaft klagte über Ohrenschmerzen und ging zum Arzt. Der Arzt blickte kurz in das Ohr, fand nichts Auffälliges und verschrieb zunächst mal irgendwelche leichten Ohrentropfen.
  Nur leider gingen die Beschwerden nicht weg. Sie zogen sich über Wochen hin, wurden immer schlimmer; es folgten zwei weitere Arztbesuche, stärkere Medikamente; und schließlich, Monate später, ein vierter Arztbesuch. Der Patient war nach den vergeblichen Arztbesuchen schon genervt, hatte eigentlich keine Lust mehr, schon wieder seine Zeit in einer Praxis zu vertrödeln – aber der Schmerz war unerträglich.
  Nur war diesmal der übliche Arzt im Urlaub, und mein Verwandter suchte einen Vertretungsarzt auf. Der schaute noch mal ins Ohr, fand eine Entzündung und sah inmitten dieser Entzündung auf dem Trommelfell eine kleine Wattefluse liegen. Die Fluse wurde entfernt – die Beschwerden verschwanden.
  Nun lag diese Fluse offenbar schon von Anfang an auf dem Trommelfell und war die Ursache der ganzen Malaise. Der erste untersuchende Arzt hatte sich allerdings nicht genug Zeit genommen, zu flüchtig hingeschaut – und das Objekt übersehen. Und bei den beiden nächsten Untersuchungen hat er gar nicht mehr hingeschaut, sondern, weil es schnell gehen musste und er ja glaubte, den Verlauf des Falles zu kennen und nach Symptomen urteilen zu können, nach kurzer Unterhaltung schon die Rezepte ausgestellt.
  Fazit: drei von vier Arztbesuchen sind durch einen Fehler des Arztes zustandegekommen; zirka 70 Prozent der Arbeitszeit hätte der Arzt sich sparen können, wenn er sich beim ersten Mal nur ein paar Sekunden mehr Zeit genommen hätte.
  Da fragt man sich doch: Wie viele der unbezahlten Arbeitsstunden für Praxisärzte kommen nur deshalb zustande, weil die Ärzte gerne Zeit sparen wollen, aber durch falsche Hektik die Krankheit nur in die Länge ziehen? Ich denke, jeder, der schon ein paar mal beim Arzt war, hat solche Fälle selbst erlebt.
  Aber: Im Grunde können die Praxisärzte nicht einmal was dafür. Denn gerade weil die Ärzte ihre Zeit nicht bezahlt kriegen, sondern nach einem ominösen Punktesystem vergütet werden, nehmen sie sich auch keine Zeit für die Patienten, sondern versuchen lieber, möglichst viele Punkte zu sammeln. Aber eine Untersuchung ist nun mal kein Computerspiel. Also, in dem Fall liegt es nicht nur am Klempner, und Pauschalen und Budgets sind in dieser Hinsicht sicher nicht hilfreich.

Ganz anders sieht es allerdings mit der Praxisorganisation aus. Wer kennt das nicht: Es ist Winter, und man verstaucht sich seinen Fuß. Dann geht man zum Arzt (oder auch nicht – denn man weiß ja schon, was einen erwartet), und dort sitzt man erst mal mit zwanzig Triefnasen drei Stunden lang im Wartezimmer.
  Mit ziemlicher Sicherheit sitzt man dann eine Woche später wieder beim selben Arzt, nämlich mit den Krankheiten, die man sich in der Woche zuvor in eben diesem Wartezimmer eingefangen hat. Und an dieser »Mehrarbeit« für den Arzt ist der Arzt tatsächlich selbst schuld, weil er seine Praxis schlecht organisiert hat und deshalb dafür verantwortlich ist, dass zu viele Patienten zu lange im Wartezimmer sitzen müssen.
  »Moment!«, wird da der ein oder andere einwenden. »Da kann der Arzt doch auch nichts dafür – eine ärztliche Untersuchung lässt sich doch nicht mit der Stoppuhr planen, und deshalb sind Wartezeiten unvermeidlich!«
  Nun, das habe ich früher auch gedacht. Bis die Sache mit meinem Zahnarzt passierte.
  Bei meinem Zahnarzt war es früher nämlich wirklich schrecklich: Das Wartezimmer immer voll, und drei Stunden Wartezeit waren Minimum. Mit Termin, wohlgemerkt! Wenn ich damals einen Termin beim Zahnarzt hatte wusste ich schon, dass ich mir einen halben Tag dafür freinehmen muss.
  Und dann, eines Tages, komme ich in die Praxis und stelle überrascht fest, dass nur zwei andere Patienten im Wartezimmer sitzen. Zehn Minuten später werde ich aufgerufen – und so ist es seitdem geblieben! Durch bloße Veränderung seiner Praxisorganisation hat dieser Zahnarzt es geschafft, dass er seither alle vereinbarten Termine zumeist im einstelligen Minutenbereich einhält; und die Veränderung zum vorherigen Zustand ist überwältigend.
  Nun, ich weiß nicht, wie dieser Zahnarzt es geschafft hat – aber seitdem weiß ich, dass es möglich ist. Jeder Arzt, der es nicht schafft, macht etwas falsch. Und ich denke, als Profi und Geschäftsmann sollte ein Arzt auch die Organisation auf den neusten Stand bringen können und auf diesem Gebiet zumindest das schaffen, was andere auch schaffen.

Ein drittes Beispiel aus der Praxis: Es ist Mittwoch, und Ihr Auge ist entzündet. Kein Grund zur Sorge: Bei einer Bindehautentzündung oder vergleichbaren Symptomen soll man ja erst mal drei Tage abwarten, ob es von selbst wieder weggeht, ehe man zum Arzt geht. Nun gut, Donnerstag ist es schlimmer geworden. Aber es ist ja auch erst ein Tag vergangen. Am Freitagmorgen brennt es schon deutlich, aber nach gerade zwei Tagen muss man noch nicht zum Arzt. Aber jetzt haben Sie ein Problem: Wenn sie sich nicht schnell entscheiden und wirklich noch drei Tage abwarten, dann ist Freitagnachmittag. Und dann hat sich was mit Ärzten und drei Tagen – Montag sehen wir uns wieder!
  Ich denke, jeder weiß, was für eine Wahl man vor dem Wochenende hat: Entweder geht man noch am Freitag zum Arzt und stellt dann fest, dass es gar nicht nötig gewesen wäre. Oder man wartet bis Montag, und dann ist es so richtig schlimm geworden und dauert doppelt so lange wie nötig.
  Da frage ich mich doch: Ist das wirklich nötig? Mitunter, in strukturstarken Gebieten, praktizieren ein halbes Dutzend Ärzte so dicht beieinander, dass sie sich fast aus dem Praxisfenster zuwinken können. Und trotzdem, wenn man am Mittwochnachmittag, am Freitagnachmittag oder gar am Wochenende krank wird, muss man zum Notdienst fahren. Denn entweder hat man sechs Ärzte zur Auswahl oder gar keinen.
  Nun, ich bin auch Freiberufler. Und von einer gesicherten Wochenendruhe kann ich nur träumen. Das heißt nicht, dass ich 7 Tage die Woche arbeite, aber ich muss meine Arbeitszeiten schon flexibel gestalten. Wenn ein Auftrag drängt, muss man halt auch am Sonntag ran – und solche Arbeitszeiten sind für Selbständige keine Seltenheit. Übrigens auch nicht für Krankenhausärzte. Wenn jetzt also die Praxisärzte auf die Straße gehen und sich über ihre unbezahlten Arbeitszeiten aufregen, dann frage ich mich schon: Arbeiten wie ein Beamter, aber verdienen wollen wie ein Manager – passt das denn zusammen?
  Wie wäre es beispielsweise, wenn sich in den besagten strukturstarken Gebieten zwei Ärzte die Praxis teilen und auch die Arbeitszeiten. Unter der Woche von 7 bis 7 geöffnet und am Wochenende dann vielleicht nur 8 Stunden, weil da halt doch weniger los ist. Ich denke, die Kunden würden es den Ärzten danken. Mancher ist vielleicht glücklich, wenn er nicht zur Arbeit muss und stattdessen den Vormittag im Wartezimmer verträumen kann – es gibt aber auch eine Menge Leute, die ganz froh darüber wären, wenn sie nicht über jeden Arztbesuch mit dem Chef diskutieren müssten sondern auch nach der Arbeit noch einen Termin kriegen könnten.
  Zumindest in Gebieten mit hoher Praxendichte könnte man so die Patientenversorgung erheblich ausweiten. Die Ärzte müssten trotzdem nicht eine Stunde länger arbeiten, sondern nur flexibler – und ganz nebenbei könnten Infrastrukturkosten für die Praxisausstattung durch intensivere Nutzung sinken. Na ja, Gemeinschaftspraxen gibt es ja schon. Ich denke nur, es müsste nicht unbedingt sein, dass dabei unbedingt alle Ärzte gleichzeitig da sind oder keiner, und dass die Praxis dann womöglich auch noch zum Gesamtgemeinschaftsurlaub dichtmacht.

Wenn also die Ärzte jetzt auf die Straße gehen und sich über die unbezahlte Arbeitszeit beschweren, dann möchte ich ihnen doch drei Fragen mit auf den Weg geben:
  Wenn Sie ein gerechtes Abrechnungssystem fordern, das alle Arbeitsstunden bezahlt – wären sie dann auch bereit, sich genauso dafür einzusetzen, dass dieses Abrechnungssystem transparent und einfach wird und keine Möglichkeiten mehr lässt, durch individuelles Tricksen mit den am günstigsten dotierten Leistungen Vorteile gegenüber bürokratisch weniger geschickten Kollegen herauszuschlagen?
  Haben Sie schon alle Organisationsmöglichkeiten in Ihrer Praxis genutzt, um dafür zu sorgen, dass ihre Arbeitszeit möglichst effizient verwaltet wird – und dass die Patienten nach einem Besuch möglichst nicht wiederkommen müssen?
  Sind Sie auch bereit, wie man es ja mittlerweile von Arbeitnehmern schon fast selbstverständlich fordert, für die Sicherheit der Vergütungen eine Flexibilisierung der Arbeitszeit zu akzeptieren?
  Wenn Sie alle diese Fragen mit ja beantworten können – und ich bin mir sicher, es gibt eine Menge niedergelassene Ärzte, die das können – dann protestieren auch Sie persönlich zu Recht gegen die skandalöse Vergütungspraxis der Kassen. Wer diese Fragen allerdings nicht bejahen kann, der sollte selbst erst mal im eigenen Haus aufräumen und den Protest lieber den konstruktiveren Kollegen und den Klinikärzten überlassen, die wirklich Grund zur Klage haben. Denn ich bin auch davon überzeugt: Wenn alle niedergelassenen Ärzte diese Frage mit ja beantworten können, dann wäre auch das Geld da, um alle Arbeitsstunden zu bezahlen.